Johannistau

Es ist die Zeit nun, wo den blauen Tag
Schon leiser weckt der Nachtigallen Schlag,
Wo schon die Taube, in der Mittagsglut,
Sich trunkner, müder breitet ob der Brut,
Wo abends, wenn das Sonnengold zergangen,
Verlorner Funke irrt des Wurmes Schein,
An allen Ranken Blütenbüschel hangen,
Und Düfte ziehn in alle Kammern ein.

»Weck mich zur rechten Zeit, mein Kamerad,
Versäumen möcht' ich Sankt Johannis Bad
Um alles nicht; ich hab' das ganze Jahr
Darauf gehofft, wenn mir so elend war.
Jérôme, du mochtest immer gut es meinen,
Bist auch, wie ich, nur armer Leute Kind,
Doch hast du klare Augen und die Deinen,
Und ich bin eine Waise und halb blind!

Hat schon der Hahn gekräht? ich hab's verfehlt;
Oft schlaf' ich fest, wenn mich der Schmerz gequält.
Ob schon die Dämmrung steigt? ich seh es nicht,
Mir fährt's wie Spinneweben am Gesicht;
Doch dünkt mich, hör' im Stalle ich Gebimmel
Und Peitschenknall; was das für Fäden sind,
Die mir am Auge schwimmen? lieber Himmel,
Ich bin nicht halb, ich bin beinah schon blind!

Hier ist der Steg am Anger, weiter will
Ich mich nicht wagen, hier ist alles still,
Und Tau genug für Kranke allzumal
Des ganzen Weilers, eh der Sonnenstrahl
Mit seinem scharfen Finger ihn gestrichen
Und aufgesogen ihn der Morgenwind;
Doch ist kein zweiter wohl hieher geschlichen,
Denn, Gott sei Dank, nur wenige sind blind.

Das ist ein Büschel – nein – doch das ist Gras,
Ich fühle meine Finger kalt und naß.
Johannes, heiliger Prophet, ich kam
In deinem werten Namen her, und nahm
Von jenem Taue, den im Wüstenbrande
Die Wolke dir geträufelt, lau und lind,
Daß nicht dein Auge in dem heißen Sande,
Nicht dein gesegnet Auge werde blind.

Gepredigt hast du in der Steppenglut –
So weißt du auch, wie harte Arbeit tut;
Doch arm und nicht der Arbeit fähig sein,
Das ist gewiß die allergrößte Pein.
Du hast ja kaum geruht in Mutterarmen,
Warst früh ein elternlos verwaistes Kind,
Woll' eines armen Knaben dich erbarmen,
Der eine Waise ist, wie du, und blind!«

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