Die Schnecke

Zum erstenmal kroch eine Schnecke,
Das schönste Kunststück der Natur,
Aus der verborgnen Fliederhecke,
Die sie gebahr auf Tempes Flur.
Hier saß auf weichen Lotusblättern
Der Phönix ihrer jungen Vettern.
Sie stutzt, sie gafft ihn staunend an
Und nickt ihm Dank, als er sie grüßet,
Doch der versuchtere Galan
Rückt näher, kömmt und sieht und küsset.
Das Bäschen schaudert und verschließet
Sich schnell in ihr verschanztes Haus.
Allein itzt schien es ihr zu enge,
Es war als zögen hundert Stränge
Sie aus der finstern Gruft heraus.
Kaum schlüpft sie aus der bunten Schale,
So küßt er sie zum andernmale.
Sie sträubt sich und mit scheuem Blick
Glitscht sie in ihr Castell zurück;
Doch dasmal nur mit dem Gesichte.
Ihr Busen winkt dem losen Wichte
Noch kühner als zuvor zu seyn.
Er wars. – Sie biß ihn doch? – Ach nein!
Sie bebte nur durch alle Glieder,
Und schäumte Zorn, doch blos zum Schein.
Nach zwo Minuten kam sie wieder.
Zwar grollt noch ihr Gesicht; allein
Der Lecker küßte seine Falten,
Und sie zog blos die Augen ein,
Die wir getäuscht für Hörner halten.
Bald aber zuckt sie gar nicht mehr,
Und küsset lieber noch als er.

Wär ich ein Schalk, ich würde schwören
Daß junge Mädchen Schnecken wären.

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