Das Unbekannte Grab

Halb schon verschüttet von dem weh'nden Sande
Ragt einsam dies verfallne Grab;
Die Sonne flammt darauf in lohem Brande,
Wie vor Aeonen, noch herab.

In keinem Grashalm, nicht im dürrsten Moose
Ringsum von Leben eine Spur;
Weit dehnen sich bis in das Grenzenlose
Der Himmel und die Wüste nur.

Und Bilder seh' ich auf dem Stein und Zeichen
In einer Schrift, die keiner kennt,
Gestalten, die der Völker keinem gleichen,
So viele die Geschichte nennt.

Wen birgt das Grabmal? Eines Königs Leiche,
Der hier das Scepter schwang
Und stolz hinunter sah auf seine Reiche
Vom Aufgang bis zum Niedergang.

In Sprachen, nun jahrtausendlang verklungen,
Ward ihm vielleicht Unsterblichkeit,
Wie den Gesängen, drin sie ihn besungen,
Von seinen Dichtern prophezeit.

Vielleicht – doch nein, nicht einen Laut mehr stammelt
Von damals die Erinnerung,
Und vor dem Staube, der sich hier gesammelt,
Scheint jede andre Vorwelt jung.

Wer giebt mir Kunde von der Zeit, der langen,
Die schon auf Erden war?
Wer nennt mir eine, die nicht schon vergangen,
Und wär' es Platos Riesenjahr?

Selbst fühl' ich hier das Haupt mir von der Schwinge
Des Todesengels schon umkreist,
Und schwindelnd in die große Nacht der Dinge
Versinkt mit Zagen mir der Geist.

O Mensch, mit deinem Schaffen, deinem Streben,
Du Opfer der Vergessenheit,
Was zählst du deine Jahre? Nur im Leben,
Allein im Tod ist keine Zeit.

Im Tod ist keine Zeit. Führt er als Beute
Dich heute noch zum Hades ein,
So wirst du in dem Schattenreich noch heute
Gleich alt mit König Cheops sein.

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